Dienstag, 13. Januar 2015

Fette Wurst, kühles Bier und Russenjagd in Lemberg



Lviv / Lemberg,
Westukraine




Bis auf den Gehsteig reicht die Menschenschlange vor dem Kellerlokal „Kryivka“ am Rynok Platz 14 in der Altstadt von Lviv. Nach einer halben Stunde öffnet uns ein Jüngling in der Uniform der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) aus dem Zweiten Weltkrieg die Tür zum Bunker („Kryivka“). Jetzt trennt uns vom Abstieg in den erlebnisgastronomischen Untergrund nur noch die UPA-Parole. Aber die kennt man aus Fernsehberichten über den Maidan.


„Ruhm der Ukraine“, brüllt der Türsteher, die Maschinenpistole fest im Griff. Noch vor der Antwort („Ruhm den Helden“) hat er uns als Besucher aus Deutschland identifiziert. Ein Leuchten geht über sein Gesicht – klar, Bundeskanzlerin Merkel und ihr Außenminister stehen in der Ukraine-Krise auf der Seite der Kiewer Regierung. Der junge Mann reicht uns zwei Gläschen Begrüßungsschnaps auch ohne Parole.
Ein großer Held ist für viele Westukrainer Stepan Bandera, der 1959 in seinem Münchner Exil von einem KGB-Agenten ermordet wurde. Banderas Konterfei begegnet man überall: Teile der Maidan-Bewegung gegen die korrupte, gestürzte Janukowitch-Regierung beriefen sich auf ihn, in Kiew marschierten am 1. Januar 2015 ungefähr 5000 Menschen in einem Fackelzug zu seinen Ehren mit – unter vielen schwarz-roten Fahnen des „Rechten Sektors“ und der blaugelben der Swoboda-Partei. In Lviv (auf Deutsch Lemberg), dem Zentrum ukrainischer Nationalisten in Geschichte und Gegenwart des Landes, wird der Nazi-Kollaborateur Bandera tief verehrt. Er leitete den radikalen Flügel der 1929 gegründeten OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten). Ukrainische Nationalisten machten zusammen mit Wehrmachtssoldaten Jagd auf die jüdischen Bewohner. „Es lebe Adolf Hitler und Stepan Bandera. Tod den Juden und Kommunisten“ stand auf Plakaten der Bandera-Gruppe zur Begrüßung der deutschen Wehrmacht am 30. Juni 1941. Von den 150 000 Juden der Stadt Lemberg hatten nur 200 bis 300 das Kriegsende erlebt - in Kanälen, in umliegenden Wäldern, mit gefälschten Papieren oder versteckt von ukrainischen und polnischen Christen, die ihr Leben riskierten. 

Über viele Stufen geht es die enge Treppe hinab in das berühmte Kellerlokal, in dem Besucher aus der ganzen Westukraine für ein paar Stunden Bandera-Partisanen spielen. Granaten, Maschinenpistolen, historische Fotos, Toilettenpapierrollen mit Putins Gesicht, Flaschen mit den Visagen von Bandera und Hitler auf den Etiketten, fette Wurst und Bier an rohen Holztischen – das alles erzeugt aber noch keine wirklich authentische Atmosphäre.


Das Bedienungspersonal schaltet das Licht im Kellergewölbe für eine spezielle Showeinlage aus. In der Finsternis leuchtet nur noch Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk auf dem Bildschirm über dem Tresen. Das Fernsehen überträgt seine Wahlkampfrede (Oktober 2014), aber sie drehen ihm den Ton ab. Vier, fünf Kellner in militärischer Aufmachung schreiten an den Tischen vorbei. Stille. Einer leuchtet mit einer Taschenlampe den Gästen ins Gesicht: „Bist du ein Moskal?“ Hat die UPA-Spaßtruppe einen „Russen“ gefunden, knallen Schüsse; natürlich Platzpatronen, der Gast soll schließlich noch seine Rechnung begleichen. Die Besucher klatschen begeistert, und wie aus einem Mund brüllt es: „Ruhm der Ukraine!“
"Danke, Gott, dass ich kein Moskal`bin", steht auf einem der Becher
In der Mitte S. Bandera-Motiv

Am Tag zuvor besichtigten wir auf Mischas Drängen das Bandera-Denkmal in der Nähe des Bahnhofs. Auch eine Bandera-Straße gibt es in Lemberg, sie führt, wie zynisch, zum jüdischen Kulturzemntrum Hessed.  Mischa, unser Fahrer und bekennender Bandera-Anhänger, fuhr uns in seinem klapprigen Taxi auch zum ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager „Janowska“, das von den Deutschen im November 1941 am Stadtrand errichtet wurde. Ein Gedenkstein erinnert an die ermordeten Juden; mit 200 000 wird die Zahl der Opfer angegeben. Auf das Gelände will er nicht mitgehen, wie er sagt. Der Ort, eine Wiese mit teilweise hüfthohem Gras, Büschen und Bäumen, zwischen denen viel Abfall liegt, sei ihm nicht geheuer. In den großen Teich mit seinem trüben Wasser hatten die Mörder die Asche der verbrannten Leichen geworfen. Im Stadtmuseum sahen wir später einen Teil der Knochenmahlmaschine, das gruselige Exponat ist dort tatsächlich ausgestellt. Wir finden verrostete Schrauben und Metallteile, sorgfältig eingesammelt in einem weißen Plastiksack, auch einen uralten Schuhabsatz. Wir haben Fragen. Mischa, der vor dem Gelände rauchend auf uns wartet, will sich die Fotos nicht ansehen. Er wendet sich ab und fleht uns an, nicht länger an diesem Ort zu bleiben. Wir werden also woanders fragen müssen. Auf der Fahrt zurück in die Innenstadt kommen wir zu einem weiteren Denkmal, das an die Opfer des Lemberger Ghettos erinnert - aus privaten Mitteln finanziert. Mischa, ein hagerer Mittvierziger mit blondem Haar, ist ein gewitzter und sympathischer Mann, der uns viel über das Leid der Ukrainer in der Geschichte zu erzählen weiß. Seine bekümmerte Miene vor den Mahnmälern für die jüdischen Opfer ist nicht aufgesetzt – er bringt in seinem Kopf den Massenmord an Juden und Polen nicht zusammen mit seinen Helden, den Kämpfern für einen unabhängigen ukrainischen Staat, die bereit waren alle zu töten, die sie als Feinde des ukrainischen Volkes definierten, einschließlich jener Ukrainer, die ihre Ziele und Methoden nicht guthießen. Den Banderisten fühlt sich Mischa, ein Stammgast von „Kryivka“, tief verbunden.

Lviv ist heute die Hochburg eines Geschichtsrevisionismus, in der zwar nicht alle, aber doch viele, die wir gesprochen haben, die Beteiligung nationalistischer Ukrainer an dem Massenmord an Juden unter Aufsicht der deutschen Besatzer leugnen und einen Märtyrerkult um Bandera und die faschistische, antisemitische OUN und UPA (Ukrainische Aufstandsarmee, der militärische Arm der OUN) pflegen. Banderas Popularität hat ihre Wurzeln in seiner fanatischen Ergebenheit für die Idee einer ethnisch homogenen Nation.  „Den ukrainischen Staat erringen oder sterben", lautete die Parole der ukrainischen nationalistischen Bewegung. Sein gewaltsamer Tod eignet sich bestens zur Legendenbildung. Am 22. Januar 2010 wurde ihm posthum von dem damaligen Staatspräsidenten Viktor Juschtschenko, einem Helden der „Orangenen Revolution", die ihre Wurzeln auch in Lemberg hatte, der Titel „Held der Ukraine“ verliehen. Polen, Russland und das Europäische Parlament protestierten energisch. Im Januar 2011, der neue Präsident hieß Viktor Janukowytsch, erkannte ein ukrainisches Gericht Bandera den Titel ab. Die Rolle der Bandera-Nationalisten, die mal mit der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpften, dann auch gegen die Deutschen und nachweislich Massaker an Juden verübten, ist, wie uns viele Gesprächspartner in Lviv erklärten, längst noch nicht
ausreichend erforscht. Geschichtliche Fakten bremsen nur die Aufbruchsstimmung der Teile der Maidan-Bewegung, in deren Kielwasser auch rechtsextreme Kräfte an politischen Einfluss gewannen. Zum Beispiel Andrij Parubij, einer der Kommandanten des Maidan, jetzt Vizepräsident des Parlaments in Kiew, Mitbegründer der neonazistischen Sozial-Nationalen Partei der Ukraine, des Vorläufers der heutigen Swoboda-Partei, und ehemals in der Führung der ultranationalistischen Organisation Patriot der Ukraine aktiv. Oder der Rechtsextremist Wadim Trojan, ehemaliger Kommandant des Freiwilligen-Kommandos Asow im Donbass, der den Einzug ins Parlament auf der Volksfront-Liste des Premiers Jazenjuk verpasste, aber für seine Verdienste im Kampf gegen die Separatisten im Osten des Landes zum Polizeichef der Region Kiew ernannt wurde. „Die historische Mission unserer Nation in diesem kritischen Moment ist, die weißen Rassen der Welt in einen finalen Kreuzzug für ihr Überleben zu führen“, erklärte der Asow-Kommandeur Andrij Bilezki der britischen Zeitung „Telegraph“. In ihren Kämpfen tragen sie die gelbe Fahne mit dem Symbol der Wolfsangel, das auch von den Nationalsozialisten verwendet wurde.

Im Zentrum des selektiven Geschichtsbewusstseins stehen heute – ähnlich wie in Litauen – die Verbrechen unter sowjetischer Besatzung. Die „Erbfeindschaft" zwischen der Ukraine und Russland reicht noch viel tiefer: 1709 erlitt die Armee des Kosakenführers Ivan Mazepa, eine zentrale Figur in der ukrainischen Nationalgeschichte, in der Schlacht bei Poltava eine schwere Niederlage durch die Einheiten Peters des Großen. Das ursprüngliche Bündnis endete in der völligen Unterwerfung des Hetmanats.
Wandgraffiti im Zentrum Lvivs
Nach seiner Entlassung aus dem KZ Sachsenhausen im September 1944 (dort war Bandera seit Sommer 1941 als Geisel inhaftiert, weil er am 30.Juni 1941 in Lemberg den ukrainischen Staat ausrufen ließ)  wollte Bandera die Ukrainer noch einmal zum gemeinsamen Kampf gegen den Bolschewismus mobilisieren. Die OUN-Kämpfer und die ukrainischen Milizen, die als paramilitärische Einheiten der OUN-B unterstanden, verübten selbständig oder zusammen mit den Deutschen Pogrome gegen Juden, töteten Rotarmisten und ukrainische Kommunisten. Die wenigen Juden, die die Massaker überlebten, wurden von der OUN-UPA registriert und ermordet, wie die Historikerin Franziska Bruder belegt: „Aus den Quellen wird deutlich, dass die OUN-UPA regelmäßig die Wälder durchstreifte, um Feinde zu töten. Aus OUN-UPA-Berichten und Meldungen geht hervor, dass sehr genau zur Kenntnis genommen wurde, wo sich Juden in Dörfern und Wäldern versteckt hielten“, schreibt sie in ihrer wissenschaftlichen Studie über die OUN ("Den ukrainischen Staat bekämpfen oder sterben!", Metropol, 2007).Die neuen sowjetischen Machthaber ließen fast die gesamte ukrainische Intelligenz zwangsweise umsiedeln. Sie wurden beschuldigt, mit den Deutschen kollaboriert zu haben, in der Waffen-SS-Divison Galizien oder in der OUN/UPA gewesen zu sein. Von der NKWD gefangengenommene OUN-UPA Mitglieder wurden in Lviv öffentlich gehängt. Auch das können viele "den Russen" nicht vergessen. Nach dem Krieg rückte nicht etwa das Leid der Juden, sondern das verfälscht dargestellte Leiden des ukrainischen Volker ins Zentrum des kollektiven Gedächtnisses. Und auch die sowjetische Geschichtsschreibung verschwieg den Massenmord an den Juden.

Für die Freiwilligen-Bataillone wird in Lviv auf den Straßen, in Restaurants und Cafés fleißig Geld gesammelt. „Können sie für unsere Jungs ein paar Hriwna spenden?", fragt uns am Abend die junge Kellnerin in einem Straßencafé am Marktplatz. „Sie müssen in dieser Kälte in Wäldern schlafen und jagen aus Hunger Wild“, fügt sie hinzu. Unsere verdutzte Reaktion quittiert die kellnernde Studentin mit Enttäuschung. Sie bringt die Rechnung. Erst im Hotel merken wir, dass auf dem Kassenbon die Spende für die ukrainische Armee ausgewiesen ist.  

Vor dem gegenwärtigen Bandera-Kult sind auch manche junge Juden beeinflusst. Unsere Gesprächspartnerin Aljona zum Beispiel, sie ist Vorsitzende der jüdischen Jugendorganisation „Hilel“ in Lviv, überrascht uns mit der Behauptung, dass der mörderische Antisemitismus der OUN/UPA und Banderas längst nicht bewiesen sei. Da brauche es schon noch Forschungen, vieles sei nur Sowjetpropaganda, sagt sie. Auch ihr nichtjüdischer Großvater habe bei der UPA gekämpft. Die Mitglieder ihres Vereins nennen sich „Zhidobanderisten“, was eine Kombination der Wörter „Zhid“ - eine antisemitische Bezeichnung eines Juden auf Russisch - und des Wortes Banderist ist. Damit wollen sie zwei Tabus brechen, sagt sie. Wir müssen an die Worte unseres jüdischen Freundes, des Ghetto-Überlebenden und Historikers Boris Zabarko aus Kiew denken: "Die jungen Ukrainer wissen leider nicht, wer Bandera war." Viele wissen auch nichts von der jüdischen Vergangenheit der Stadt. Ada Dyanova, Direktorin der „Hesed-Arieh“, arbeitet dafür, dass das jüdische Leben in Lviv eine Zukunft hat. Der offiziellen Statistik, derzufolge 2000 Juden in der Stadt leben, traut sie nicht. Sie schätzt, es sind etwa 5000. Auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine hätten viele Angst gehabt, sich zu ihrer jüdischen Abstammung zu bekennen. Die energische ehemalige Schauspielerin unterhält ein soziales Netzwerk, initiiert und organisiert kulturelle Veranstaltungen, erforscht das jüdische Erbe. Sie selbst ist ein Beispiel für die Juden, die nach der erzwungenen Assimilation zur Sowjetzeit, um ihre Identität ringen. „Jüdin war ich laut Pass, aber nicht in meiner Seele“, sagt sie. Erst als sie mit 40 vom Holocaust in Lemberg erfuhr, begann sie, sich auf ihre Wurzeln zu besinnen. Auch wenn die Welt der Lemberger Juden schon im Zweiten Weltkrieg verloren ging, „Hesed-Arieh“ und die drei kleinen jüdischen Gemeinden sind Orte des Aufbruchs. Boris Dorfman, der 91-jährige Publizist und Gelehrte jüdischer Kultur, ist einer von nur drei Juden in Lviv, die noch Jiddisch beherrschen. Seine Mutter war 15 Jahre lang in sowjetischen Lagern in Sibirien inhaftiert, der Vater starb in einem Lager in Kasachstan. Der jüdische Intellektuelle schaut nicht optimistisch in die Zukunft, auch nach dem Maidan nicht: „Ich bin dort gewesen. Der Maidan wurde von Lemberg aus organisiert. Von der Swoboda.“ Dorfman, der  keinerlei Sympathie für die ehemalige Sowjetunion und Russland nachgesagt werden kann, gefällt eine Entwicklung nicht: Unter dem Moskauer Regime sei keine Kritik möglich gewesen. Jetzt werde derjenige, der anderer Meinung sei, als Feind der Ukraine abgestempelt.
Boris Dorfman


Andrij Sadowyj, der bei den Parlamentswahlen das drittbeste Stimmenergebnis erzielte, ist seit 2006 Oberbürgermeister der Stadt Lviv und kein Rechtsextremer. „Lviv ist sehr freundlich, wir respektieren alle. Sie können ruhig die Sprache sprechen, die Ihnen lieb ist. Sie werden verstanden und unterstützt“, sagte er in einem Interview der Badischen Zeitung im März 2014. Mischa kennt die Verhältnisse besser und gibt uns gleich zu Anfang einen wohlgemeinten Tipp: „Sprechen Sie auf keinen Fall Russisch, das ist die Sprache des Feindes.“ In Freiburgs Partnerstadt Lviv fand im März 2014 wie schon die Jahre davor ein Aufmarsch zur Ehre von Veteranen der ehemaligen  Waffen-SS-Division Galizien statt. Etwa 300 Jugendliche, Studenten und Schüler in bestickten Hemden nahmen daran teil, viele von ihnen fuhren davor jede Woche in Bussen nach Kiew, um auf dem Maidan gegen das korrupte Janukowytsch.-Regime zu protestieren. Dass ausgerechnet westukrainische Studenten sich so begeistert für das faschistische Erbe zeigen, mag überraschen. Aber auch vor dem Zweiten Weltkrieg waren es Studenten und Gymnasialschüler, die in Lviv die ersten OUN-Zellen gebildet hatten. Die OUN verstand sich als Elite des ukrainischen Volkes, ihre Mitglieder rekrutierten sich vor allem aus der Intelligenz. Auch Stepan Bandera, Sohn eines griechisch-katholischen Pfarrers, ging 1927 nach seinem Abitur nach Lemberg und studierte dort Agrarwissenschaft. Das Gleiche beobachteten wir schon in Budapest, wo nicht wenige Studenten die rechtsextreme Jobbik-Partei bewundern.

Hat die Ukraine keine anderen Helden? Vergessen sind die zigtausenden Ukrainer, die in der Roten Armee und als Partisanen gegen den deutschen Faschismus kämpften, die mehr als eine Million Landsleute, die als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich verschleppt wurden und nicht zuletzt die 2042 Ukrainer, die als Gerechte der Völker von Yad Vashem geehrt wurden, weil sie Juden Zuflucht und Hilfe gewährten.

Im Jahr 2007, bei unserer ersten Reise nach Lviv, waren an die Wände der Goldenen-Rose-Synagoge noch Sprüche wie "Tod den Juden" geschmiert und nur notdürftig übermalt. Jetzt steht auf manchen Hauswänden im Stadtzentrum ein anderer Spruch: „Lemberg macht frei“, in Abwandlung des zynischen Nazispruchs über den Eingangstoren zu deutschen Konzentrationslagern. Antisemitismus gibt es nach wie vor – aber der ist nicht mehr beherrschend. Der Hauptfeind ist Russland. Im September 1944, als die OUN-UPA angesichts der militärischen Niederlage Hitlerdeutschlands bemüht war, die Spuren ihrer Gräueltaten zu verwischen, wurde in einem OUN/UPA-Papier die Richtlinie erlassen: „Gegen die Juden keine Aktionen unternehmen. Die jüdische Angelegenheit ist kein Problem mehr, es sind nur noch sehr wenige übrig geblieben“, zitiert Franziska Bruder aus einem OUN-Dokument. Antisemitische Strömungen, sagen viele in der Ukraine, sind seit dem Maidan zurückgegangen. In der Bewegung für Freiheit und Demokratie waren doch auch ukrainische Juden engagiert. „Die Banderisten wollten wie Hitler die Juden vernichten. Jetzt sind die Faschisten plötzlich die Freunde der Juden“, sagt Boris Dorfmann über die neue Entwicklung. Er meint nicht die vielen Ukrainer auf dem  Maidan, die für Freiheit und Demokratie kämpften, sondern die ultranationalen Kräfte, die einen fast exklusiven Nationalismus verfolgen und Hass nicht nur auf Putin, sondern auf alle Russen fördern. Dazu passt, dass die Ideologien der Intoleranz sich auf Mythen stützen, etwa über die OUN. Auch Premier Jazenuk schreibt fleißig die Geschichte um: In einem ARD-Interview meinte er kürzlich, dass man sich doch gut an die Invasion der Sowjetarmee in der Ukraine und in Deutschland erinnern könne.

Jetzt geht es gegen den Erbfeind Russland, der nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim als die Hauptbedrohung angesehen wird.


Auf der Terrasse ganz oben, über den Dächern der 750 Jahre alten Stadt, hat die „Kryivka“-Truppe ein Flak-Geschütz aufgestellt, falls Putin doch noch angeflogen kommt. Auf dem Sitz posieren grinsende Touristen für ein Foto. Das mit dem Ruhm ist die eine Sache. Aber der Umsatz ist auch nicht zu verachten. Der Bunker gehört zur Kette „Holding of Emotions“. Das Unternehmen betreibt in Lviv noch 16 weitere Restaurants, darunter eines in der Staroevreiska, der Altjüdischen Gasse, das auch Erlebnisgastronomie bietet. Das Lokal „Goldene Rose“ soll die Gäste mit jüdischen Sitten bekannt machen, wie es im Werbetext heißt; deshalb gibt es keine Preise, die Gäste sollen mit der Bedienung um den Rechnungsbetrag feilschen. Es liegt gleich neben der Ruine der Goldenen-Rose-Synagoge, eine Ruine, die von den ehemals 47 Synagogen Lembergs übrigblieb. Für die Witzbolde unter den Besuchern gibt es schwarze Hüte mit angeklebten Haarzöpfen, wie man sie von orthodoxen Juden kennt. So ein Erinnerungsfoto finden sie ganz toll. Die heute offiziell 2000 Juden in Lviv, einst ein europäisches Zentrum des Judentums, halten das dagegen für ziemlich unpassend. In die Ruine der Goldenen-Rose-Synagoge gleich nebenan geht heute noch eine Gruppe von Juden regelmäßig zum Gebet. Darunter ist Boris Dorfman. Er kämpft gegen das Vergessen der jahrhundertealten, reichen jüdischen Kultur, an die in dieser Stadt - ein Drittel der Bevölkerung vor dem Krieg war jüdisch - kaum jemand erinnern möchte. Es gibt auch gegenläufige Bemühungen: Tatsächlich soll jetzt das Grundstück, auf dem die Ruine der Rosen-Synagoge steht, zu einem Gedenkort gemacht werden. Nur im städtischen Tourismusbüro weiß man offenbar nichts davon. Fragt man nach der Synagoge, wird man zum gleichnamigen Restaurant geschickt.

Ruine der Synagoge Goldene Rose
 
Einen englischen Touristen begeisterte übrigens der Partisanenbunker "Kryivka" und in Vorwegnahme jeglicher Kritik hat er gepostet: Das sei kein Nationalismus oder Rassismus, sondern Humor. Mischa freute sich sehr, als er von unserem Besuch erfuhr. Jetzt könnten wir, meinte er, die ukrainische Seele und die Wurzeln des ukrainischen Patriotismus viel besser verstehen.


Anmerkung:
Es ist nur eine Impression aus unserer Ukraine-Reise, die wir im Herbst 2014 unternahmen. Sie war Teil unserer Recherchen für das Buch "Die Unsichtbaren. Eine Reise zu den letzten Juden Osteuropas", das 2017 in C.H. Beck-Verlag erscheint, und wurde ermöglicht durch das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung und des Literarischen Colloquium Berlin.




Donnerstag, 1. Januar 2015

Die Unsichtbaren.
Eine Reise zu den letzten Juden Osteuropas
 
(in Vorbereitung, erscheint voraussichtlich im Herbst 2015 im C- H. Beck Verlag)
 
Seit zwei Jahren recherchieren wir für unseres neues Buch über Juden und das jüdische Leben in sieben osteuropäischen Ländern - Tschechien, Slowakei, Ungarn, Belarus, Ukraine, Polen, sowie über die Jüdische autonome Republik Birobidschan im russischen Fernosten. Die Idee, dieses Buch zu schreiben, hatten wir schon 2007, nach unserer ersten Reise in die Ukraine. Es kam aber anders: Wir lernten in der Slowakei Eva Fleischmanová kennen, die 20 Jahre alt war, als sie im Juni 1944 zusammen mit ihrem Verlobten Geza nach Auschwitz deportiert wurde. Sie war eine der sieben schwangeren Jüdinnen, die im Winter 1944/1945 in einem Außenlager von KZ Dachau ein Kind zur Welt brachte. Diese Geschichte muss aufgeschrieben werden, wurde uns sofort klar. Nun kehrten wir zu unserem Projekt zurück.
 
Warum ausgerechnet ein Buch über Juden, die einst hinter dem Eisernen Vorhang lebten?
 
Wir wissen heute viel über den Massenmord an europäischen Juden und über die Kriegszeit, auch kennen wir die Zahlen der Toten. Fast unbekannt blieben dagegen die Schicksale derer, die überlebt haben und in ihrer alten Heimat geblieben sind. 80 Prozent der heute lebenden Juden haben ihre Wurzeln in den einst kommunistischen Ländern Ostmitteleuropas. Heute leben dort nur noch etwa vier Prozent der Juden weltweit. Im Gegensatz zu ihren Glaubensschwestern und Glaubensbrüdern in den westlichen Demokratien mussten sie nicht nur mit dem Trauma der Shoah leben. Aufgrund ihrer jüdischen Identität wurden sie auch nach 1945 stigmatisiert, verfolgt, einem harten Assimilierungsdruck ausgesetzt, im Alltag diskriminiert, von antisemitischen Kampagnen und Übergriffen bedroht. Allein schon der Besuch einer Synagoge konnte in der sozialistischen Tschechoslowakei der 1970er und 1980er Jahre eine Vorladung von der geheimen Staatspolizei mit sich bringen. Schicksale der osteuropäischen Juden blieben fast unbekannt. Allgemeines Desinteresse, Unkenntnis der Sprache, Fortbestand der Stereotypen aus der Zeit des Kalten Krieges, die in osteuropäischen Juden pauschal "die Kommunisten" sahen, dürften die Hauptursachen dafür sein.
Die Probleme der heutigen jüdischen Gemeinden illustrieren sehr gut das Wort von einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. Von der politischen Wende versprachen sich die Juden Ostmitteleuropas auch das Ende ihrer unsichtbaren Existenz. Die Rückbesinnung auf die eigene jüdische Herkunft fällt vielen von ihnen jedoch schwer. Das hat auch damit zu tun, dass in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern, die seit dem Untergang der kommunistischen Regime im neuen Europa um ihre nationale Selbstbestimmung und Identität ringen, antisemitisches, revisionistisches und nationalistisches Gedankengut eine Konjunktur erlebt.
 Wir fragen, wo das jüdische Leben noch eine Zukunft hat, und wo wiederum die Gefahr besteht, dass das reiche jüdische Erbe in Kommerz und Kitsch abgleitet? Mit den Recherchen für dieses Buch begannen wir bereits 2007 - in der Ukraine, die wir im Herbst 2014 wieder bereisten. Die aktuellen Ereignisse, die wir nicht vorhersehen konnten - der Krieg im Osten, Konflikt mit Russland -  wirkten sich auf unsere Reise aus. Die jüdische Gemeinde des Landes ist gespalten, viele ukrainische Juden, mit denen wir sprachen, schauen mit Sorgen in die Zukunft. Auch darüber werden wir berichten.

Untersuchungen einer ganzen ethnischen Gruppe über geografisch weite Gebiete und lange Zeiträume haben wir nicht vor. Zu diesem Thema gibt es erstens schon Literatur (vor allem im englischsprachigen Raum), zweitens liegen uns als Journalisten exemplarische Einzelschicksale viel mehr als die eher abstrakte Betrachtungsweise. Die Geschichte der Menschen und Gruppen, die wir porträtieren, sind eingebettet in die Mikrogeschichten der Regionen, in denen sie heute leben. Einige gehörten vor dem Zweiten Weltkrieg oder während der Kriegszeit nicht zu den Staaten, deren Teil sie heute sind.
Wir reisen zu den letzten Juden Mittel- und Osteuropas. Mit einigen von ihnen verbindet uns eine Freundschaft. Anhand von ausgewählten Porträts, Essays und Reportagen berichten wir über das jüdische Leben in Karlsbad und Prag (Tschechien), Bratislava und Kosice (Slowakei), Budapest und Nyiregyhaza (Ungarn), Krakau und Warschau (Polen), Lviv, Kiew und Odessa (Ukraine), Kaunas und Vilnius (Litauen), Minsk und Nowogrudok (Belarus) sowie über Birobidschan (Russland).

Für die Recherchereisen erhielten wir ein Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch-Stiftung und des Literarischen Colloquiums in Berlin, eine Förderung der Stiftung "Die Schwelle" sowie der Ursula Lachnitt-Stiftung. Ohne diese Unterstützung wären unsere Recherchen in diesem Umfang nicht möglich gewesen. Dafür sind wir sehr dankbar.

Das Buch erscheint im Münchner Verlag C.H. Beck voraussichtlich im Herbst 2015.