Lviv / Lemberg,
Westukraine
Bis auf den Gehsteig reicht die Menschenschlange vor
dem Kellerlokal „Kryivka“ am Rynok Platz 14 in der Altstadt von Lviv. Nach
einer halben Stunde öffnet uns ein Jüngling in der Uniform der Ukrainischen
Aufstandsarmee (UPA) aus dem Zweiten Weltkrieg die Tür zum Bunker („Kryivka“).
Jetzt trennt uns vom Abstieg in den erlebnisgastronomischen Untergrund nur noch
die UPA-Parole. Aber die kennt man aus Fernsehberichten über den Maidan.
„Ruhm der Ukraine“, brüllt der Türsteher, die
Maschinenpistole fest im Griff. Noch vor der Antwort („Ruhm den Helden“) hat er
uns als Besucher aus Deutschland identifiziert. Ein Leuchten geht über sein Gesicht – klar,
Bundeskanzlerin Merkel und ihr Außenminister stehen in der Ukraine-Krise auf
der Seite der Kiewer Regierung. Der junge Mann reicht uns zwei Gläschen Begrüßungsschnaps
auch ohne Parole.
Ein großer Held ist für viele Westukrainer Stepan
Bandera, der 1959 in seinem Münchner Exil von einem KGB-Agenten ermordet wurde.
Banderas Konterfei begegnet man überall: Teile der Maidan-Bewegung gegen die
korrupte, gestürzte Janukowitch-Regierung beriefen sich auf ihn, in Kiew
marschierten am 1. Januar 2015 ungefähr 5000 Menschen in einem Fackelzug zu
seinen Ehren mit – unter vielen schwarz-roten Fahnen des „Rechten Sektors“ und
der blaugelben der Swoboda-Partei. In Lviv (auf Deutsch
Lemberg), dem Zentrum ukrainischer Nationalisten in Geschichte und Gegenwart
des Landes, wird der Nazi-Kollaborateur Bandera tief verehrt. Er leitete den
radikalen Flügel der 1929 gegründeten OUN (Organisation Ukrainischer
Nationalisten). Ukrainische Nationalisten machten zusammen mit Wehrmachtssoldaten
Jagd auf die jüdischen Bewohner. „Es lebe Adolf Hitler und Stepan Bandera. Tod
den Juden und Kommunisten“ stand auf Plakaten der Bandera-Gruppe zur Begrüßung
der deutschen Wehrmacht am 30. Juni 1941. Von den 150 000 Juden der Stadt
Lemberg hatten nur 200 bis 300 das Kriegsende erlebt - in Kanälen, in
umliegenden Wäldern, mit gefälschten Papieren oder versteckt von ukrainischen und polnischen Christen,
die ihr Leben riskierten.
Über viele Stufen geht es die enge Treppe hinab in das
berühmte Kellerlokal, in dem Besucher aus der ganzen Westukraine für ein paar
Stunden Bandera-Partisanen spielen. Granaten, Maschinenpistolen, historische
Fotos, Toilettenpapierrollen mit Putins Gesicht, Flaschen mit den Visagen von
Bandera und Hitler auf den Etiketten, fette Wurst und Bier an rohen Holztischen
– das alles erzeugt aber noch keine wirklich authentische Atmosphäre.
Das Bedienungspersonal schaltet das Licht im
Kellergewölbe für eine spezielle Showeinlage aus. In der Finsternis leuchtet
nur noch Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk auf dem Bildschirm über dem Tresen.
Das Fernsehen überträgt seine Wahlkampfrede (Oktober 2014), aber sie drehen ihm
den Ton ab. Vier, fünf Kellner in militärischer Aufmachung schreiten an den
Tischen vorbei. Stille. Einer leuchtet mit einer Taschenlampe den Gästen ins
Gesicht: „Bist du ein Moskal?“ Hat die UPA-Spaßtruppe einen „Russen“ gefunden,
knallen Schüsse; natürlich Platzpatronen, der Gast soll schließlich noch seine
Rechnung begleichen. Die Besucher klatschen begeistert, und wie aus einem Mund
brüllt es: „Ruhm der Ukraine!“
"Danke, Gott, dass ich kein Moskal`bin", steht auf einem der Becher In der Mitte S. Bandera-Motiv |
Am Tag zuvor besichtigten wir auf
Mischas Drängen das Bandera-Denkmal in der Nähe des Bahnhofs. Auch eine Bandera-Straße gibt es in Lemberg, sie führt, wie zynisch, zum jüdischen Kulturzemntrum Hessed. Mischa, unser
Fahrer und bekennender Bandera-Anhänger, fuhr uns in seinem klapprigen Taxi
auch zum ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager „Janowska“, das von
den Deutschen im November 1941 am Stadtrand errichtet wurde. Ein Gedenkstein
erinnert an die ermordeten Juden; mit 200 000 wird die Zahl der Opfer
angegeben. Auf das Gelände will er nicht mitgehen, wie er sagt. Der Ort, eine
Wiese mit teilweise hüfthohem Gras, Büschen und Bäumen, zwischen denen viel
Abfall liegt, sei ihm nicht geheuer. In den großen Teich mit seinem trüben
Wasser hatten die Mörder die Asche der verbrannten Leichen geworfen. Im
Stadtmuseum sahen wir später einen Teil der Knochenmahlmaschine, das
gruselige Exponat ist dort tatsächlich ausgestellt. Wir finden verrostete
Schrauben und Metallteile, sorgfältig eingesammelt in einem weißen Plastiksack,
auch einen uralten Schuhabsatz. Wir haben Fragen. Mischa, der vor dem Gelände
rauchend auf uns wartet, will sich die Fotos nicht ansehen. Er wendet sich
ab und fleht uns an, nicht länger an diesem Ort zu bleiben. Wir werden also
woanders fragen müssen. Auf der Fahrt zurück in die Innenstadt kommen wir zu
einem weiteren Denkmal, das an die Opfer des Lemberger Ghettos erinnert - aus privaten Mitteln finanziert. Mischa, ein hagerer Mittvierziger mit
blondem Haar, ist ein gewitzter und sympathischer Mann, der uns viel über das
Leid der Ukrainer in der Geschichte zu erzählen weiß. Seine bekümmerte Miene
vor den Mahnmälern für die jüdischen Opfer ist nicht aufgesetzt – er bringt in
seinem Kopf den Massenmord an Juden und Polen nicht zusammen mit seinen
Helden, den Kämpfern für einen unabhängigen ukrainischen Staat, die bereit
waren alle zu töten, die sie als Feinde des ukrainischen Volkes definierten,
einschließlich jener Ukrainer, die ihre Ziele und Methoden nicht guthießen. Den
Banderisten fühlt sich Mischa, ein Stammgast von „Kryivka“, tief verbunden.
Lviv ist heute die Hochburg eines
Geschichtsrevisionismus, in der zwar nicht alle, aber doch viele, die wir gesprochen haben, die Beteiligung nationalistischer Ukrainer an
dem Massenmord an Juden unter Aufsicht der deutschen Besatzer leugnen und einen
Märtyrerkult um Bandera und die faschistische, antisemitische OUN und UPA
(Ukrainische Aufstandsarmee, der militärische Arm der OUN) pflegen. Banderas
Popularität hat ihre Wurzeln in seiner fanatischen Ergebenheit für die
Idee einer ethnisch homogenen Nation. „Den ukrainischen Staat
erringen oder sterben", lautete die Parole der ukrainischen
nationalistischen Bewegung. Sein gewaltsamer Tod eignet sich bestens zur
Legendenbildung. Am 22. Januar 2010 wurde ihm posthum von dem damaligen
Staatspräsidenten Viktor Juschtschenko, einem Helden der „Orangenen
Revolution", die ihre Wurzeln auch in Lemberg hatte, der Titel „Held der Ukraine“ verliehen. Polen, Russland und
das Europäische Parlament protestierten energisch. Im Januar 2011, der neue
Präsident hieß Viktor Janukowytsch, erkannte ein ukrainisches Gericht Bandera
den Titel ab. Die Rolle der Bandera-Nationalisten, die mal mit der deutschen
Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpften, dann auch gegen die Deutschen und
nachweislich Massaker an Juden verübten, ist, wie uns viele Gesprächspartner in
Lviv erklärten, längst noch nicht
ausreichend erforscht. Geschichtliche Fakten
bremsen nur die Aufbruchsstimmung der Teile der Maidan-Bewegung, in deren
Kielwasser auch rechtsextreme Kräfte an politischen Einfluss gewannen. Zum Beispiel
Andrij Parubij, einer der Kommandanten des Maidan, jetzt Vizepräsident des
Parlaments in Kiew, Mitbegründer der neonazistischen Sozial-Nationalen Partei
der Ukraine, des Vorläufers der heutigen Swoboda-Partei, und ehemals in der
Führung der ultranationalistischen Organisation Patriot der Ukraine aktiv. Oder
der Rechtsextremist Wadim Trojan, ehemaliger Kommandant des
Freiwilligen-Kommandos Asow im Donbass, der den Einzug ins Parlament auf der
Volksfront-Liste des Premiers Jazenjuk verpasste, aber für seine Verdienste im
Kampf gegen die Separatisten im Osten des Landes zum Polizeichef der Region
Kiew ernannt wurde. „Die historische Mission unserer Nation in diesem
kritischen Moment ist, die weißen Rassen der Welt in einen finalen Kreuzzug für
ihr Überleben zu führen“, erklärte der Asow-Kommandeur Andrij Bilezki der
britischen Zeitung „Telegraph“. In ihren Kämpfen tragen sie die gelbe Fahne mit
dem Symbol der Wolfsangel, das auch von den Nationalsozialisten verwendet
wurde.
Im Zentrum des selektiven
Geschichtsbewusstseins stehen heute – ähnlich wie in Litauen – die
Verbrechen unter sowjetischer Besatzung. Die „Erbfeindschaft" zwischen der
Ukraine und Russland reicht noch viel tiefer: 1709 erlitt die Armee des
Kosakenführers Ivan Mazepa, eine zentrale Figur in der ukrainischen
Nationalgeschichte, in der Schlacht bei Poltava eine schwere Niederlage durch
die Einheiten Peters des Großen. Das ursprüngliche Bündnis endete in der
völligen Unterwerfung des Hetmanats.
Wandgraffiti im Zentrum Lvivs |
Nach seiner Entlassung aus dem KZ
Sachsenhausen im September 1944 (dort war Bandera seit Sommer 1941 als Geisel
inhaftiert, weil er am 30.Juni 1941 in Lemberg den ukrainischen Staat ausrufen
ließ) wollte Bandera die Ukrainer noch einmal zum gemeinsamen Kampf gegen den
Bolschewismus mobilisieren. Die OUN-Kämpfer und die ukrainischen Milizen,
die als paramilitärische Einheiten der OUN-B unterstanden, verübten selbständig oder zusammen mit den
Deutschen Pogrome gegen Juden, töteten Rotarmisten und ukrainische
Kommunisten. Die wenigen Juden, die die Massaker überlebten, wurden von der
OUN-UPA registriert und ermordet, wie die Historikerin Franziska Bruder belegt:
„Aus den Quellen wird deutlich, dass die OUN-UPA regelmäßig die Wälder durchstreifte,
um Feinde zu töten. Aus OUN-UPA-Berichten und Meldungen geht hervor, dass sehr
genau zur Kenntnis genommen wurde, wo sich Juden in Dörfern und Wäldern
versteckt hielten“, schreibt sie in ihrer wissenschaftlichen Studie über die OUN ("Den
ukrainischen Staat bekämpfen oder sterben!", Metropol, 2007).Die neuen sowjetischen Machthaber ließen fast die gesamte ukrainische
Intelligenz zwangsweise umsiedeln. Sie wurden beschuldigt, mit den Deutschen
kollaboriert zu haben, in der Waffen-SS-Divison Galizien oder in der OUN/UPA
gewesen zu sein. Von der NKWD gefangengenommene OUN-UPA Mitglieder wurden in
Lviv öffentlich gehängt. Auch das können viele "den Russen" nicht
vergessen. Nach dem Krieg rückte nicht etwa das Leid der Juden, sondern das verfälscht dargestellte Leiden des ukrainischen Volker ins Zentrum des kollektiven Gedächtnisses. Und auch die sowjetische Geschichtsschreibung verschwieg den
Massenmord an den Juden.
Für die Freiwilligen-Bataillone wird in
Lviv auf den Straßen, in Restaurants und Cafés fleißig Geld gesammelt. „Können
sie für unsere Jungs ein paar Hriwna spenden?", fragt uns am Abend die
junge Kellnerin in einem Straßencafé am Marktplatz. „Sie müssen in dieser Kälte
in Wäldern schlafen und jagen aus Hunger Wild“, fügt sie hinzu. Unsere
verdutzte Reaktion quittiert die kellnernde Studentin mit Enttäuschung. Sie
bringt die Rechnung. Erst im Hotel merken wir, dass auf dem Kassenbon die Spende für die ukrainische Armee
ausgewiesen ist.
Vor dem gegenwärtigen Bandera-Kult sind auch manche junge Juden beeinflusst. Unsere Gesprächspartnerin
Aljona zum Beispiel, sie ist Vorsitzende der jüdischen Jugendorganisation „Hilel“ in
Lviv, überrascht uns mit der Behauptung, dass der mörderische
Antisemitismus der OUN/UPA und Banderas längst nicht bewiesen sei. Da brauche
es schon noch Forschungen, vieles sei nur Sowjetpropaganda, sagt sie. Auch
ihr nichtjüdischer Großvater habe bei der UPA gekämpft. Die Mitglieder ihres
Vereins nennen sich „Zhidobanderisten“, was eine Kombination der Wörter „Zhid“ -
eine antisemitische Bezeichnung eines Juden auf Russisch - und des
Wortes Banderist ist. Damit wollen sie zwei Tabus brechen, sagt sie. Wir
müssen an die Worte unseres jüdischen Freundes, des Ghetto-Überlebenden und
Historikers Boris Zabarko aus Kiew denken: "Die jungen Ukrainer wissen
leider nicht, wer Bandera war." Viele wissen auch nichts von der
jüdischen Vergangenheit der Stadt. Ada Dyanova, Direktorin der „Hesed-Arieh“,
arbeitet dafür, dass das jüdische Leben in Lviv eine Zukunft hat. Der
offiziellen Statistik, derzufolge 2000 Juden in der Stadt leben, traut sie
nicht. Sie schätzt, es sind etwa 5000. Auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine
hätten viele Angst gehabt, sich zu ihrer jüdischen Abstammung zu bekennen. Die
energische ehemalige Schauspielerin unterhält ein soziales Netzwerk, initiiert und organisiert kulturelle Veranstaltungen, erforscht das jüdische Erbe. Sie selbst
ist ein Beispiel für die Juden, die nach der erzwungenen Assimilation zur
Sowjetzeit, um ihre Identität ringen. „Jüdin war ich laut Pass, aber nicht in
meiner Seele“, sagt sie. Erst als sie mit 40 vom Holocaust in Lemberg
erfuhr, begann sie, sich auf ihre Wurzeln zu besinnen. Auch wenn die Welt der
Lemberger Juden schon im Zweiten Weltkrieg verloren ging, „Hesed-Arieh“ und die
drei kleinen jüdischen Gemeinden sind Orte des Aufbruchs. Boris Dorfman, der 91-jährige
Publizist und Gelehrte jüdischer Kultur, ist einer von nur drei Juden in Lviv, die
noch Jiddisch beherrschen. Seine Mutter war 15 Jahre lang in sowjetischen Lagern in Sibirien inhaftiert, der Vater starb in einem Lager in Kasachstan. Der jüdische Intellektuelle schaut nicht optimistisch in die
Zukunft, auch nach dem Maidan nicht: „Ich bin dort gewesen. Der Maidan wurde von Lemberg aus
organisiert. Von der Swoboda.“ Dorfman, der keinerlei Sympathie für die
ehemalige Sowjetunion und Russland nachgesagt werden kann, gefällt eine
Entwicklung nicht: Unter dem Moskauer Regime sei keine Kritik möglich
gewesen. Jetzt werde derjenige, der anderer Meinung sei, als Feind der Ukraine
abgestempelt.
Boris Dorfman |
Andrij Sadowyj, der bei den
Parlamentswahlen das drittbeste Stimmenergebnis erzielte, ist seit 2006
Oberbürgermeister der Stadt Lviv und kein Rechtsextremer. „Lviv ist sehr
freundlich, wir respektieren alle. Sie können ruhig die Sprache sprechen, die
Ihnen lieb ist. Sie werden verstanden und unterstützt“, sagte er in einem
Interview der Badischen Zeitung im März 2014. Mischa kennt die
Verhältnisse besser und gibt uns gleich zu Anfang einen wohlgemeinten Tipp:
„Sprechen Sie auf keinen Fall Russisch, das ist die Sprache des Feindes.“ In
Freiburgs Partnerstadt Lviv fand im März 2014 wie schon die Jahre
davor ein Aufmarsch zur Ehre von Veteranen der ehemaligen
Waffen-SS-Division Galizien statt. Etwa 300 Jugendliche, Studenten und
Schüler in bestickten Hemden nahmen daran teil, viele von
ihnen fuhren davor jede Woche in Bussen nach Kiew, um auf dem Maidan gegen
das korrupte Janukowytsch.-Regime zu protestieren. Dass ausgerechnet
westukrainische Studenten sich so begeistert für das faschistische
Erbe zeigen, mag überraschen. Aber auch vor dem Zweiten Weltkrieg waren es
Studenten und Gymnasialschüler, die in Lviv die ersten OUN-Zellen gebildet
hatten. Die OUN verstand sich als Elite des ukrainischen Volkes, ihre
Mitglieder rekrutierten sich vor allem aus der Intelligenz. Auch Stepan
Bandera, Sohn eines griechisch-katholischen Pfarrers, ging 1927 nach seinem
Abitur nach Lemberg und studierte dort Agrarwissenschaft. Das Gleiche
beobachteten wir schon in Budapest, wo nicht wenige Studenten die
rechtsextreme Jobbik-Partei bewundern.
Hat die Ukraine keine anderen Helden?
Vergessen sind die zigtausenden Ukrainer, die in der Roten Armee und als
Partisanen gegen den deutschen Faschismus kämpften, die mehr als eine Million
Landsleute, die als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich verschleppt wurden und
nicht zuletzt die 2042 Ukrainer, die als Gerechte der Völker von Yad Vashem
geehrt wurden, weil sie Juden Zuflucht und Hilfe gewährten.
Im Jahr 2007, bei unserer
ersten Reise nach Lviv, waren an die Wände der Goldenen-Rose-Synagoge noch
Sprüche wie "Tod den Juden" geschmiert und nur notdürftig
übermalt. Jetzt steht auf manchen Hauswänden im Stadtzentrum ein
anderer Spruch: „Lemberg macht frei“, in Abwandlung des zynischen
Nazispruchs über den Eingangstoren zu deutschen Konzentrationslagern.
Antisemitismus gibt es nach wie vor – aber der ist nicht mehr beherrschend. Der
Hauptfeind ist Russland. Im September 1944, als die OUN-UPA angesichts der
militärischen Niederlage Hitlerdeutschlands bemüht war, die Spuren ihrer
Gräueltaten zu verwischen, wurde in einem OUN/UPA-Papier die Richtlinie
erlassen: „Gegen die Juden keine Aktionen unternehmen. Die jüdische
Angelegenheit ist kein Problem mehr, es sind nur noch sehr wenige übrig
geblieben“, zitiert Franziska Bruder aus einem OUN-Dokument. Antisemitische Strömungen, sagen viele in der Ukraine, sind seit dem Maidan
zurückgegangen. In der Bewegung für Freiheit und Demokratie waren doch auch
ukrainische Juden engagiert. „Die Banderisten wollten wie Hitler die Juden
vernichten. Jetzt sind die Faschisten plötzlich die Freunde der Juden“, sagt
Boris Dorfmann über die neue Entwicklung. Er meint nicht die vielen Ukrainer auf dem Maidan, die für Freiheit
und Demokratie kämpften, sondern die ultranationalen Kräfte, die einen fast
exklusiven Nationalismus verfolgen und Hass nicht nur auf Putin, sondern auf alle Russen fördern. Dazu passt,
dass die Ideologien der Intoleranz sich auf Mythen stützen, etwa über die OUN.
Auch Premier Jazenuk schreibt fleißig die Geschichte um: In einem ARD-Interview
meinte er kürzlich, dass man sich doch gut an die Invasion der Sowjetarmee in
der Ukraine und in Deutschland erinnern könne.
Jetzt geht es gegen den Erbfeind Russland, der nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim als die Hauptbedrohung angesehen wird.
Auf der Terrasse ganz oben, über den Dächern der 750 Jahre alten Stadt, hat die „Kryivka“-Truppe ein Flak-Geschütz aufgestellt, falls Putin doch noch angeflogen kommt. Auf dem Sitz posieren grinsende Touristen für ein Foto. Das mit dem Ruhm ist die eine Sache. Aber der Umsatz ist auch nicht zu verachten. Der Bunker gehört zur Kette „Holding of Emotions“. Das Unternehmen betreibt in Lviv noch 16 weitere Restaurants, darunter eines in der Staroevreiska, der Altjüdischen Gasse, das auch Erlebnisgastronomie bietet. Das Lokal „Goldene Rose“ soll die Gäste mit jüdischen Sitten bekannt machen, wie es im Werbetext heißt; deshalb gibt es keine Preise, die Gäste sollen mit der Bedienung um den Rechnungsbetrag feilschen. Es liegt gleich neben der Ruine der Goldenen-Rose-Synagoge, eine Ruine, die von den ehemals 47 Synagogen Lembergs übrigblieb. Für die Witzbolde unter den Besuchern gibt es schwarze Hüte mit angeklebten Haarzöpfen, wie man sie von orthodoxen Juden kennt. So ein Erinnerungsfoto finden sie ganz toll. Die heute offiziell 2000 Juden in Lviv, einst ein europäisches Zentrum des Judentums, halten das dagegen für ziemlich unpassend. In die Ruine der Goldenen-Rose-Synagoge gleich nebenan geht heute noch eine Gruppe von Juden regelmäßig zum Gebet. Darunter ist Boris Dorfman. Er kämpft gegen das Vergessen der jahrhundertealten, reichen jüdischen Kultur, an die in dieser Stadt - ein Drittel der Bevölkerung vor dem Krieg war jüdisch - kaum jemand erinnern möchte. Es gibt auch gegenläufige Bemühungen: Tatsächlich soll jetzt das Grundstück, auf dem die Ruine der Rosen-Synagoge steht, zu einem Gedenkort gemacht werden. Nur im städtischen Tourismusbüro weiß man offenbar nichts davon. Fragt man nach der Synagoge, wird man zum gleichnamigen Restaurant geschickt.
Ruine der Synagoge Goldene Rose |
Einen englischen Touristen begeisterte übrigens der Partisanenbunker "Kryivka" und in Vorwegnahme jeglicher Kritik hat er gepostet: Das sei kein Nationalismus oder Rassismus, sondern Humor. Mischa freute sich sehr, als er von unserem Besuch erfuhr. Jetzt könnten wir, meinte er, die ukrainische Seele und die Wurzeln des ukrainischen Patriotismus viel besser verstehen.
Anmerkung:
Es ist nur eine Impression aus unserer Ukraine-Reise, die wir im Herbst 2014 unternahmen. Sie war Teil unserer Recherchen für das Buch "Die Unsichtbaren. Eine Reise zu den letzten Juden Osteuropas", das 2017 in C.H. Beck-Verlag erscheint, und wurde ermöglicht durch das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung und des Literarischen Colloquium Berlin.
Anmerkung:
Es ist nur eine Impression aus unserer Ukraine-Reise, die wir im Herbst 2014 unternahmen. Sie war Teil unserer Recherchen für das Buch "Die Unsichtbaren. Eine Reise zu den letzten Juden Osteuropas", das 2017 in C.H. Beck-Verlag erscheint, und wurde ermöglicht durch das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung und des Literarischen Colloquium Berlin.